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Eine Kampagne für vielseitige Ausbildung

Leseprobe aus dem aktuellen Heft, Feine Hilfen Ausgabe 19.

Interview mit Kerstin Gerhardt

 

In Kerstin Gerhardts Kampagneschule wird Vielseitigkeit großgeschrieben. Bei ihr geht jedes junge Pferde ins Gelände, über Cavaletti und ins Dressurviereck. Warum sie auf Abwechslung statt Spezialisierung setzt, erklärte sie Chefredakteurin Claudia Weingand im Interview.

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Kerstin Gerhardt und Sandra Adamczyk betreiben die Kampagneschule gemeinsam. (Foto: Thomas Rubel)

 

Feine Hilfen: Sie betreiben die „Kampagneschule“ in Bedburg/NRW. Dieser Begriff ist heutzutage sicher erklärungsbedürftig. Wofür steht er?
Kerstin Gerhardt: Ich hole etwas aus: Daran, dass mein Betrieb Kampagneschule heißt, ist eigentlich mein Reitlehrer Wolfgang Bogdan und die Dressurprüfungen der 80er-Jahre schuld. Wolfgang Bogdan war ein hervorragender Ausbilder und unser Verein war toll. Reiterpassprüfungen, Springen, Gelände – das alles gehörte zum Standardprogramm, das jeder Schüler absolvieren musste. Wer talentiert war, durfte in die Förderstunde. Ich hatte das Glück. Dabei entdeckte mich Herr Werner Schönwald, der letzte Otto-Löhrke-Schüler. Als ich 15 Jahre alt war, bot er mir eine Lehrstelle an, die ich begeistert annahm. Meine Dressurausbildung vertiefte sich; ich entwickelte eine Art „Dressursucht“ und wollte von Springen und Geländereiten nichts mehr wissen. Dressur – das ist doch wie Schach beim Joggen, eine tolle Herausforderung! Mein Chef ließ mich gewähren, wahrscheinlich wusste er, dass ich schon noch zur Vernunft kommen würde …
Irgendwann nahm ich an einem Dressurturnier teil. Das Pferd hieß Dandy und lief grandios. Ich hätte fast eine 8,6 bekommen – wenn dieser blöde Gehorsamssprung, den es damals noch gab, nicht gewesen wäre. Dandy verweigerte einmal, zweimal und ein drittes Mal, und ich war raus. Von da an schwor ich mir, dass ich mich nie mehr auf ein Spezialgebiet fokussieren wollte und für den Rest meines Lebens Vielseitigkeit reiten wollte. Deswegen bilde ich in der Kampagneschule nach dem Vorbild der alten Meister des letzten Jahrhunderts vielseitig aus: Allein in der niederen Kampagneschule lernt das junge Pferd, Dressur, Springen und Geländehindernisse bis Klasse A zu absolvieren. Das bezeichnete man früher als Grundausbildung! Ich habe den klassischen, aus dem Französischen stammenden Begriff Campagneschule übrigens nicht eingedeutscht. Das K steht dort, weil ich mit der Schule eine Kampagne für die vielseitige Grundausbildung starten wollte.

Der Begriff Campagneschule kommt aus der Militärreiterei und wird heute nur noch selten verwendet, sondern durch das Wort Grundausbildung ersetzt. Das französische Wort „Campagne“ („Feld“ beziehungsweise „Feldzug“) weist darauf hin, dass Pferde früher durch diese Ausbildung für den Kriegsdienst tauglich gemacht werden sollten.
Die in den alten Reitlehrbüchern veröffentlichten Grundsätze der Campagneschule können noch heute für die Grundausbildung unserer Pferde dienen. Die heutige klassische Ausbildung basiert im Wesentlichen auf den Erkenntnissen und Ausbildungsmethoden der früheren Militärreiterei.

 

Feine Hilfen: Was schätzen Sie – wie viele Prozent der Reitpferde in Deutschland haben diese Grundausbildung?
Gerhardt: 20 Prozent vielleicht.

Feine Hilfen: Warum nur so wenige?
Gerhardt: Weil es anstrengend ist und weil man früher als Reiter irgendwie rauer war. Ich bin in einer der Reitstunden 14 Mal vom Pferd gefallen. Und da habe ich nicht etwa den Reitlehrer verklagt, sondern mich zutiefst geschämt! Heute lautet der Grundsatz „Safety first“. Das ist nicht verkehrt, aber etwas Mut gehört zum Reiten dazu.
Ein anderer Grund für so wenige Pferde mit guter Grundausbildung ist, dass wir heute viel „Inselwissen“ haben. Die Leute spezialisieren sich zu früh und reiten dann bei Ausbildern, die auch spezialisiert sind, zum Beispiel auf Dressur. Eine tolle vielseitige Ausbildung gerade für Kinder und Jugendliche findet man nicht mehr oft. Ich möchte hier als positives Beispiel gern Annika Schon mit ihrer Kampagneschule Löwenzahn in Meerbusch empfehlen. Glauben Sie mir, Vielseitigkeit lohnt sich. Wenn man „Hardcore-Dressurreiter“ mit Stangentraining vertraut macht, sind sie erst skeptisch und dann begeistert, weil die Pferde plötzlich motivierter und losgelassener sind als zuvor. Das ist ja auch logisch: Wenn Sie nur Mathematik in der Schule haben, gehen Sie dann gern hin …?

 

Feine Hilfen: Um Himmels willen, nein.
Gerhardt: So geht es Pferden, die Tag für Tag an Lektionen feilen müssen. Dabei fördert vielseitiges Training auch die Rittigkeit und damit die Leistung in der Dressur: Je mehr Synapsen ich schon beim jungen Pferd anspreche, desto intelligenter wird es und desto mehr Spaß entwickelt es an der Bewegung und der Zusammenarbeit mit dem Menschen. Man kann Pferde natürlich nur für die Dressur abrichten, ich will aber Mitarbeiter, keine Marionetten. Meine Empfehlung lautet deshalb: Spezialisiert euch nicht zu früh. Das gilt für junge Pferde und Menschen.

 

Feine Hilfen: Die Remonte ist frisch angeritten und akzeptiert „Gas, Bremse und Lenkung“. Wie sähe die weitere Ausbildung in der Kampagneschule aus? Was sollte das Jungpferd in den ersten Monaten unterm Sattel lernen?
Gerhardt: Zunächst behandle ich ein angerittenes Pferd, das zu mir in Beritt kommt, wie ein rohes. Oft ist nämlich irgendetwas faul, wenn man sein Pferd nach dem Anreiten in Beritt gibt. Ich würde dann mit Longieren und der Arbeit an der Hand beginnen und Grundbegriffe erklären, etwa Vorhandwendungen, Schenkelweichen, Abkauübungen. Wenn das sicher sitzt, denken wir erst ans Reiten. Viele angerittene Pferde wissen nämlich mit all diesen Übungen nichts anzufangen. Sie können Schritt, Trab und Galopp geradeaus, aber sonst nichts. Besonders die Vorhandwendung ist doch die Übung zum Erklären der diagonalen Hilfen. Solange das Pferd das nicht verstanden hat, wendet man nur am inneren Zügel ab. Nicht sehr pferdeschonend.
Wenn diese Grundlagen sitzen, nehme ich Stangenarbeit und Ausritte ins Gelände dazu. Das Pferd darf sich frisch nach vorn bewegen und ich kann mir ganz entspannt „den Rücken holen“. Wunderbar für Kopf und Körper!
Auf keinen Fall darf ich ein junges, vier, fünf oder sechs Jahre altes Pferd schon auf eine Disziplin spezialisieren. Leider spezialisieren sich die jungen Reiter auch immer früher und legen sich auf eine Disziplin fest. Für gesunde Jungpferdeausbildung braucht man deshalb einen vielseitigen, erfahrenen Ausbilder. Das Problem: Diese gibt es immer seltener. Die zukünftigen Trainer müssen eigentlich nur zeigen, dass sie einigermaßen reiten können. Ob sie tatsächlich junge Pferde ausbilden können, prüft niemand. Das Ausbilden-Können wird nicht gelehrt.

 

Feine Hilfen: Dazu kommt, dass Pferdebesitzer ihr Jungpferd nicht monate- und jahrelang zur vielseitigen Ausbildung zum Profi geben möchten.
Gerhardt: Ja, wir haben hier weniger Berittpferde als früher. Das liegt gar nicht an der Nachfrage, sondern an der falschen Vorstellung der Pferdebesitzer. Viele potenzielle Kunden fragen mich, ob sie ihr Pferd mal eben zehn Tage in Korrekturberitt geben können. Nein, können sie leider nicht. Ich bin kein Kfz-Mechaniker. Korrektur bedeutet nämlich „Back to the roots“, und das dauert. Was soll ein Tier in zehn Tagen nachhaltig lernen?

 

Feine Hilfen: Wie bauen Sie die Ausbildung der Jungpferde auf? Gibt es Trainingspläne?
Gerhardt: Junge, unerfahrene Ausbilder brauchen unbedingt Trainingspläne. In jugendlichem Alter ist man ja tendenziell zu ehrgeizig und läuft Gefahr, zu viel zu wollen. Wenn man seit Jahrzehnten ausbildet, genügen ein Plan im Kopf und ein Blick in die Box. Wenn ein Pferd müde wirkt, geht es nur auf die Koppel oder im Schritt ins Gelände. Ist es lustig drauf, wäre Freispringen eine Option. Ist es munter und aufmerksam, steht vielleicht konzentrierte Dressurarbeit an. Ich entscheide mittlerweile oft intuitiv und individuell abhängig vom Pferd. Dreijährige reiten wir hier zum Beispiel gar nicht, manche Pferde kommen auch erst sechsjährig unter den Sattel. Sinnvoll finde ich auf jeden Fall Ausbildungstagebücher. Die sollten eigentlich alle Reiter, ob Profi oder nicht, führen.
Wer nach Plan trainiert, soll sich bitte mit einem erfahrenen Ausbilder beraten und stets hinterfragen, ob der Plan zum Pferd passt. Frisch angeweidete Pferde mit prallen Grasbäuchen muss man nicht unbedingt durch Dressurlektionen zwingen, nur weil das gerade auf dem Zettel steht. Dann arbeitet man sie zwei, drei Tage locker, bis das Verdauungssystem umgestellt ist. Das Pferd muss ja nicht nur mental arbeitsbereit, sondern auch physisch arbeitsfähig sein.

 

Feine Hilfen: Wie kann eine typische Trainingswoche für ein Jungpferd, das recht frisch unterm Sattel ist, aussehen?
Gerhardt: Man könnte Montag freispringen, Dienstag longieren, Mittwoch ein bisschen vorwärts-abwärts reiten, Freitag ins Gelände und am Wochenende mal eine Aufgabe aus einer E-Dressur durchreiten. Zwischendurch gibt es auch immer mal einen Pausentag. Dieser Arbeitsrhythmus variiert dann gern von Woche zu Woche.
Wichtig ist, sich immer vor Augen zu halten, dass die Grundausbildung, wenn alles gut läuft, zwei Jahre dauert. Am Ende der Grundausbildung sind Takt, Losgelassenheit und Anlehnung sicher „installiert“. Man kann und darf dabei nichts erzwingen. Wenn man sich daran hält, gewinnt man einen Partner fürs Leben.

 

Feine Hilfen: Dressur, Geländereiten und Springen/Springgymnastik sind also wichtige Elemente der schonenden Jungpferdeausbildung. Gilt das für alle Pferderassen und -typen? Nützt es zum Beispiel einem Iberer, Cavalettiarbeit kennenzulernen? Das macht man in Spanien doch auch nicht, könnte man denken …
Gerhardt: Wir als Reiter sind den Pferden diese vielseitige Ausbildung schuldig. Dressur ist liebevolle Erziehung und systematische Ausbildung, die das Pferd fordert und fördert. Ein System, das ich gern mit Matheunterricht vergleiche. Klar brauche ich Mathematik. Ich will aber auch, dass der Schüler glücklich ist, weshalb ich ihn vielfältig fördern und ihm auch mal Entspannung bieten muss. Dasselbe gilt fürs Pferd – und zwar für jedes Pferd! Lusitanos und PREs haben einen kurzen Rücken, die in Kombination mit dem hoch aufgesetzten Hals zu Kissing Spines neigen. Manche sind tatsächlich Stangenlegastheniker. Dann muss ich das Stangentraining anpassen und beginne zum Beispiel mit Schrittstangen. Die helfen auch und gerade diesen Pferden, über den Rücken zu gehen. Wichtig ist auch, dressurbetonte Warmblüter mal frei im Gelände vorwärtszuschicken. Den Pferden tut es gut, man muss es nur ausprobieren. Das wird nebenbei auch Baustellen in der Dressur lösen. Man kann ja nicht permanent auf den Problemen herumreiten, das verdirbt die Beziehung zum Pferd.

 

Feine Hilfen: Apropos Probleme: Was tun, wenn der Reiter nun Angst vorm Springen oder vorm Ausreiten hat?
Gerhardt: Dann lässt er das Pferd freispringen oder führt es im Gelände spazieren. Dagegen hat niemand was, das ist sogar absolut sinnvoll. Pferde, ganz besonders junge, müssen raus!

 

Feine Hilfen: Was sind aus Ihrer Sicht heutzutage die häufigsten Fehler in der Jungpferdearbeit?
Gerhardt: Die Leute schauen zu oft auf die Uhr. 15 Minuten Schritt, 30 Minuten Arbeitsphase etc. … Das Pferd trägt die Uhr, es gibt den Zeitplan vor. Nur darauf muss der Reiter schauen! Außerdem wagen sich zu viele unerfahrene Leute an Jungpferdeausbildung. Es ist nicht in Ordnung, ein Pferd nach dem Trial-and-Error-Verfahren auszubilden, möglichst noch mit Longierhilfen und abenteuerlichen Hilfszügelmodellen.
„Junge Pferde gehören in alte Hände.“ Der alte Spruch ist absolut gültig. Nur erfahrene Ausbilder haben ein Füllhorn an Alternativen, wenn Plan A nicht funktioniert, und sind dadurch geduldiger und souveräner. Das gibt dem Pferd Sicherheit. Ein Pferd auf L- oder M-Niveau weiter zu fördern ist leicht, wenn die Grundausbildung gut ist. Ich habe sicherlich auch Pferde versaut in meinen Anfangszeiten als Ausbilderin. Das ist leider gang und gäbe, bis man es irgendwann begriffen hat.

 

Feine Hilfen: Kann man Erfahrungen in der Jungpferdeausbildung sammeln, ohne Pferde zu verschleißen?
Gerhardt: Ja, wenn man eine einfache Regel befolgt: Hören, nicken, tun. Das heißt: Besorgt euch einen guten Lehrer und nehmt euch seinen Rat zu Herzen. Aus der Kombination Basistrainer und unerfahrener Reiter wird kein junges Pferd glücklich. Manchmal muss man sich die Frage stellen, ob das Pferd wirklich gern beim Reiter ist. Wenn ich manche Schüler frage, ob sie gern ihr eigenes Pferd wären, werden sie verlegen.
Feine Hilfen: Eine Frage nach dem gesunden Maß: Während auf der einen Seite Dreijährige im starken Trab auf Auktionen vorgestellt werden, stagniert auf der anderen Seite mancher „Freizeitreiter“ mit seinem längst erwachsenen Pferd auf E-Niveau. Wie findet man die Balance zwischen „verheizen“ und „kaputt schonen“?
Gerhardt: Wer die Grundausbildung so stark verkürzt, tut das fast immer des Geldes wegen. Profit ist dann wichtiger als das Pferd, das Tier wird zur Ware. Ganz ehrlich: Da ist mir manches kaputt geschonte Freizeitpferd lieber. Ich schaue mir lieber eine nett gerittene E-Dressur an als eine S mit einem zur Marionette degradierten Pferd, das nicht als Lebewesen wertgeschätzt wird. Reiten soll, entschuldigen Sie die Phrase, Kunst sein. Und Kunst verträgt sich nicht mit Kommerz.
Ich gebe in einem Verein in der Gegend Unterricht. Seit ein paar Jahren kommen außer den Dressurreitern Freizeitreiter, die vorwiegend ausreiten, in die Reitstunden. Die „Geländepferde“ sind fast alle lockerer, in besserer Form und geschmeidiger als die festgezurrten „Dressurpferde“. Ich unterrichte wirklich lieber gute Freizeit- als schlechte Turnierreiter. Während die „Sportreiter“ sich bei Korrekturen schnell auf den Schlips getreten fühlen, sagen die Freizeitreiter meist: „Klar, probiere ich, wenn es dem Pferd guttut.“
Früher sind Freizeitreiter schief durch die Gegend gehoppelt, heute lesen sie viel, denken nach und sind hoch motiviert. Ich mag es nicht, wenn Sportreiter abfällig über sie reden. Dabei können sie sich oft eine Scheibe von ihnen abschneiden.

 

Feine Hilfen: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Claudia Weingand.

 

Kerstin Gerhardt ist Bereiterin FN und Berufsschullehrerin für Pferdewirte. Seit fast zehn Jahren betreibt sie zusammen mit Sandra Adamczyk die Kampagneschule in Bedburg.
http://www.kampagneschule.info/

 

Die Kampagneschule Löwenzahn in Merbusch, betrieben von Annika Schon, ist spezialisiert auf die vielseitige Grundausbildung von Kindern und Jugendlichen.
Kontakt: http://kampagneschule-löwenzahn.de

Category: Besondere Themen

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