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Mag ich Pferde oder mag ich den Erfolg mit ihnen?

LESEPROBE aus dem Artikel von Ulrike Bergmann aus der Sicht von Wolfgang Marlie. Der vollständige Artikel ist in unserer Ausgabe 24 nachzulesen.

Wenn man oben in einen Automaten das passende Geld wirft, plumpsen unten die ausgewählten Süßigkeiten raus. So ungefähr habe ich die kleine Holsteiner Stute Illusion behandelt, die in den 1970er-Jahren auf meinen Hof kam.

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Wolfgang Marlie auf seinem Trakehner Stern. (Foto: Ulrike Bermann)

Ein unglaublich schickes, zierliches Pferdchen. Mit 1,59 Metern Stockmaß zu klein für den großen Sport, gerade angeritten – und unglaublich hektisch. Bevor man auch nur daran denken konnte, sie zu treiben, rannte sie bereits. In jeder Ecke sah sie Gespenster – und schon diese Formulierung sagt viel darüber aus, mit welcher Einstellung ich mich daranmachte, das Pferd weiter beziehungsweise besser auszubilden. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätte ich pausenlos versucht, große Geldscheine in den Münzschlitz eines Automaten zu stopfen, und mich ernsthaft darüber gewundert, dass unten keine Schokolade rausfiel.
Zu dieser Zeit kam es uns vor allem darauf an, dass ein Pferd gerade gerichtet an den äußeren Zügel herantritt und sich im verkürzten Rahmen taktmäßig im Gleichgewicht bewegt. Leistungen, die mir auch heute noch wichtig sind, aber in keinem Fall mehr an erster Stelle stehen. Dass für mich heute der Inhalt vor der Form kommt, dass es mir erst um eine vertrauensvolle Beziehung und um Lust oder Neugier auf gemeinsame Aktivitäten geht, diese Erkenntnis verdanke ich zu einem großen Teil Illusion.

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Wolfgang Marlie bildet seit Jahrzehnten Pferde aus. Einige davon brachten ihn zum                        Umnken – darunter die Holsteiner Stute Illusion. (Foto: privat)

Eine Stunde hatte ich sie täglich unter dem Sattel, eine Stunde lang versuchte ich, sie in ein taktmäßiges Tempo zu bekommen … Seien wir ehrlich, ich versuchte, sie dort mit allen mir bekannten reiterlichen Techniken hineinzuzwingen. Aber jeder Sonnenkringel, der auf den Hallenboden fiel, jeder Wasserfleck an der Bande, jedes Klappern der Tür sorgte dafür, dass sie augenrollend und schnaubend zur Seite sprang. Sie war ständig aufgeregt, man könnte auch sagen, sie war ständig auf der Flucht – und zwar, wie ich heute weiß, vor ihrem Reiter.

Damals gab es noch keine Handys. In einer Ecke unserer Reithalle, gleich neben der Tür, hing deshalb ein Telefon an der Wand. Wenn es klingelte, ritt ich darauf zu, parkte mein Pferd daneben ein und telefonierte von seinem Rücken aus. Klingt einfach, führte aber bei schreckhaften Berittpferden manches Mal dazu, dass ich mich zwischen Sattel und Telefon entscheiden und den damals ja noch mit einer Schnur an den Apparat gebundenen Hörer krachend gegen die Bande fliegen lassen musste. Mit Illusion klappte zumindest das Einparken relativ gut, und irgendwann fiel mir auf, dass das zierliche Stütchen meine Telefonate sogar zu genießen schien. Wenn ich den Hörer von der Gabel nahm, atmete sie aus und konnte verhältnismäßig ruhig stehen. Beendete ich das Gespräch, war sie sofort wieder in Alarmbereitschaft: tänzelte, schlug mit dem Kopf, und wenn ich sie mit dem inneren Zügel am Losrennen hinderte, kreiselte sie halt um ihre eigene Vorhand. Ich begann es bewusst zu testen, indem ich mich extra in der Halle anrufen ließ beziehungsweise einfach so zum Telefon ritt und den Hörer abnahm. Und tatsächlich, für Illusion war es das Signal zur Entspannung. Mir verschaffte meine eigene Beobachtung dagegen mächtig Kopfzerbrechen: Wie viel Druck machte ich ihr? Offensichtlich zu viel, das musste ich mir eingestehen.

Dauerflucht mit Futterschüsseln

 

Als erste Maßnahme schnallte ich daraufhin die Sporen ab und legte die Gerte weg. Trotzdem war das Pferd unter mir ständig auf der Flucht. Dann beschloss ich, nur noch Schritt zu reiten. Erster Hufschlag, immer außen rum. Kein Stellen, kein Biegen, nur ein leichter Kontakt zum Pferdemaul, mehr nicht.

Acht Monate hielt ich durch. Tag für Tag, eine Stunde Schritt. Es hatte etwas vom Ponyreiten auf dem Jahrmarkt. Mit dem Unterschied, dass die Ponys dort nicht mal einen Blick zur Seite werfen, geschweige denn einen Hopser machen. Illusion blieb nervig, guckig, angespannt. Und in mir begann es immer mehr zu brodeln: Da verlangte ich nun schon so wenig! Nur Schritt! Konnte sie dann nicht zumindest dieses bisschen gut machen? Mensch, Pferd! Das ist doch nicht zu viel verlangt …

Nach acht Monaten ließ ich auch noch die Zügel weg und versuchte, ein Frage-Antwort-Spiel mit ihr zu machen: Wie findest du es, wenn ich beispielsweise den inneren Schenkel leicht anlege? Mal antwortete die Stute darauf, indem sie die Beine in den Boden rammte, mal schoss sie buckelnd durch die Halle. Und egal ob mit oder ohne Schenkel, die Ecken blieben ihr Albtraum. Und meiner damit auch. Also noch weniger Druck. Oder vielleicht mehr positive Anreize? Ich seufzte innerlich auf: Na gut, von mir aus. Aber wie? Tag und Nacht dachte ich angestrengt darüber nach. Dann hatte ich die Idee, ihr die Ecken im wahrsten Sinn des Wortes schmackhaft zu machen. Ich platzierte dort Futterschüsseln und ließ das Pferd auf unserem Weg jeweils ein Maulvoll nehmen. Das musste ihr doch einfach gefallen! Tatsächlich ließ sie sich darauf ein, wurde aber nur noch hektischer, weil sie jetzt auf ihrer Dauerflucht auch noch versuchte zu fressen. Quasi im Vorbeifliegen schnappte sie in die Schüsseln. Die Vorstellung, sie könnte dabei ruhig stehen bleiben, entspannt fressen und die Gespensterecken so geradezu lieben lernen … Ihr Name war auch in diesem Fall Programm: Meine Ideen blieben eine einzige Illusion.

 

 Berg und Meer

Die Stute wohnte bis zu ihrem Tod in meinem Stall, aber nie hatte ich das Gefühl, sie wirklich ins Herz schließen zu können. Sie blieb mir ein Rätsel. Und warum? Heute ist mir das sehr bewusst: Weil ich eben krampfhaft daran arbeitete, sie zum Funktionieren zu bringen. Weil ich mir selbst den Druck machte, es doch hinbekommen zu müssen. Weil ich für meine Freundlichkeit, für die weggelassenen Sporen, die Snackstationen am Wegesrand Gegenleistungen erwartete. Was für ein Quatsch! Wenn ein Bergsteiger einen Gipfel erklimmen möchte, erwartet er von dem Berg ja auch nicht, dass er sich ein bisschen kleiner macht. Nur weil der Kletterer sich solche Mühe mit ihm gibt.

Pferde so als Naturereignis wahrzunehmen, das ist ein gedanklicher Ansatz, der mir sehr hilft. Dann muss man nicht mit ihnen hadern, sondern kann sich an ihnen freuen oder sich im Zweifel eben nicht mit ihnen beschäftigen. Ihnen übel zu nehmen, dass sie ängstliche Fluchttiere sind, deren einziges Ziel es ist, bestmöglich für sich selbst zu sorgen, ist sinnlos. Es ist so, als würde der Segler dem Meer ankreiden, dass es tief ist.

 Fragt man Wolfgang Marlie (78) danach, was er an seinem Beruf am meisten mag, antwortet er: „Wenn ich Pferden und ihren Menschen Mut zum fröhlichen Miteinander machen kann.“ Seit er 1961 die Hilfsreitlehrerprüfung bei Paul Stecken in Münster bestand, gibt Marlie Reitunterricht. Weitere Stationen seiner Laufbahn waren u. a. Warendorf und das Reitinstitut von Neindorff in Karlsruhe. Gemeinsam mit Ehefrau Kari führt er die Reiterpension Marlie in Scharbeutz an der Ostsee. Mehr Erlebnisse mit Pferden in Schwierigkeiten gibt es in seiner Biografie „Pferde, wie von Zauberhand bewegt“. Darin erzählt er u. a. ausführlicher von Stern und Wildfang und beschreibt seinen persönlichen Weg vom ehrgeizigen Turnierreiter zum entspannten Horseman. Einen praktischen Einblick in seine Arbeit bietet auch der gleichnamige Film, der 2014 bei pferdia tv erschienen ist. www.reiterpension-marlie.de

Category: Besondere Themen

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