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Was Kerzen, Piercings und Oliveiras Reithalle gemeinsam haben

Leseprobe aus Feine Hilfen 21

Was Kerzen, Piercings und Oliveiras Reithalle gemeinsam haben

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Gegen unruhige Hände hilft das innere Bild mit der brennenden Kerze. (Foto: Kathrin Brunner-Schwer)

 

von Kathrin Brunner-Schwer

Die Vorstellungskraft ist eine der mächtigsten Kräfte des menschlichen Verstandes. Innere Bilder, Gefühle und positive Erinnerungen lösen messbare physiologische Reaktionen in uns aus, das ist schon lange erwiesen. „Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen“, sagte schon Albert Einstein. Doch selbst wenn wir beim Reiten wissen, fällt es in manchen Fällen unendlich schwer, dieses Wissen umzusetzen.

Ob Vorstellungskraft, Vision oder Kopfkino – innere Bilder können „Knoten“ lösen. Jene „Knoten“ nämlich, die sich über Jahre des „Vor-sich-hin-Wurschtelns“, nachlässigen Reitunterrichts oder wegen kleiner körperlicher Handicaps (beim Staubsaugen die Hüfte gezerrt oder Ähnliches) verfestigt haben. Innere Bilder und die Gefühle, die dabei entstehen, lenken ab. Sie entspannen. Im Fokus des Reiters steht dann nicht mehr „das Problem“, dem er sich bis dahin meist viel zu verbissen gewidmet hat. Warum nutzen wir nicht vermehrt unser Kopfkino, um uns umzupolen und Schwierigkeiten einmal anders zu bewältigen? Denn dass sich jede Empfindung, jedes Gefühl des Reiters unmittelbar und in Reinform auf das Pferd überträgt, hat sich mittlerweile ausreichend in der Praxis bestätigt.

Ich möchte Ihnen im Folgenden einige Bilder in Ihren Kopf pflanzen, die allesamt aus dem Kreis der Familie Nuno Oliveiras stammen. Diese Bilder haben bei mir selbst (und vielen meinen Reitschülern) eine Menge „Knoten“ platzen lassen. Dabei habe ich beim Unterricht mit besonders hartnäckigen Fällen herausgefunden, wie innere Bilder noch wirkungsvoller werden: Man muss den Reiter an der Entstehung des Bildes beteiligen. Will heißen, man baut die Visualisierung detailliert aus.

 

Die brennende Kerze

 

Einer der schwerwiegendsten Reiterfehler – klar – ist die unruhige Hand. Viel zu viele Reiter fuhrwerken viel zu viel mit ihren Händen herum. Das ist in den seltensten Fällen beabsichtigt und oftmals ein schleichender, sich stetig verstärkender Prozess. Ebenso oft zu beobachten: die verdeckte Hand, bei der die Faust nach vorn zeigt, Zügelhilfen nur mit Kraft aus dem Oberkörper stattfinden und feine Hilfen aus dem Handgelenk unmöglich sind. Gegen beides hilft das Bild mit der brennenden Kerze. Stellen Sie sich vor, Sie halten zusätzlich zu den Zügeln in jeder Hand eine brennende Haushaltskerze. Aber stellen Sie sich die Kerzen nicht nur einfach so vor.

 

Visualisieren Sie, wie Sie beim Discounter Ihres Vertrauens eine Packung, nehmen wir mal weiße, Haushaltskerzen kaufen. Sie nehmen die Packung mit in den Stall, machen sie auf und nehmen zwei Stück heraus. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf und nehmen die Zügel in die Hände. Jemand reicht Ihnen eine Kerze in jede Hand und zündet mit einem Feuerzeug diese beiden Kerzen für Sie an, während Sie sie halten. Sie reiten langsam los im Schritt. Langsam, weil die noch junge Flamme sonst ausgehen könnte. Die Flamme wird jetzt kräftiger, weil der Docht das flüssig werdende Wachs aufsaugt. Das Wachs um den Docht verflüssigt sich mehr und mehr. Und nun müssen Sie Ihre Hände vollkommen gerade und still halten – weil das flüssige heiße Wachs sonst auf Ihre Hände tropft: Autsch! Kippen Ihre Fäuste nach vorn, tropft das Wachs auf Fell und Mähne Ihres Pferdes! Wie wollen Sie das jemals wieder da herausbekommen? Heißes Wasser darüberschütten? Ganz bestimmt nicht angenehm …

Nuno Oliveiras Enkelsohn Gonçalo Oliveira benutzt beim Thema „Hände ruhig“ für sich selbst im Übrigen ein anderes Bild: „Mir persönlich hilft immer dann, wenn ich feststelle, dass ich zu viel mit meinen Händen mache: Ich stelle mir eine Wand hinter mir vor, die ich mit meinem Rücken und meinen Ellbogen berühre. Ich fühle sie mit meinen Ellbogen. Dieses Bild wirkt bei mir wie eine Autokorrektur.“

 

 

Das Drahtseil

Ein gerade aufgerichteter Oberkörper beim Reiten, der weder zu sehr nach vorn noch nach hinten fällt, mit entspannter Schulterpartie und einem entspannten Becken, das je nach Bedarf jederzeit aktiv wird, ist der Idealfall. Aber wie ihn erreichen, wenn man ständig wieder in alte (Körper-)Muster zurückfällt, weil man ja auch noch auf andere Dinge zu achten hat?

Ein effektiver Trick ist das folgende Bild: Drücken Sie Ihren Bauchnabel Richtung Mittelpunkt zwischen den Ohren des Pferdes. Stellen Sie sich dabei vor, Ihr Bauchnabel sei über ein dünnes Drahtseil mit einem Punkt exakt zwischen den Ohren des Pferdes verbunden. Konstruieren wir dieses Bild deutlicher: Gestern haben Sie sich einen Ring in Ihren Bauchnabel piercen lassen. An diesem Ring in Ihrem Bauchnabel ist ein Karabinerhaken befestigt. Am Genickstück des Zaumzeugs Ihres Pferdes, genau zwischen den Ohren, hat der Sattler ebenfalls einen festen Ring angebracht. Zuvor haben Sie im Baumarkt in der Abteilung für den Seglerbedarf ein circa 85 Zentimeter langes, dünnes, silberglänzendes Drahtseil gekauft, das über jeweils eine feste Öse an beiden Enden verfügt. Sie sitzen auf. Dann nehmen Sie das dünne, aber nicht besonders biegsame Drahtseil und befestigen das eine Ende mit einem Karabinerhaken am Ring des Zaumzeug-Kopfstücks. Das andere Ende des Drahtseils haken Sie in den Karabinerhaken am Piercing Ihres Bauchnabels. Sie reiten los. Das feine, aber stabile, silberglänzende Drahtseil ist nun fest mit Ihrem Bauchnabel und dem Mittelpunkt zwischen den Ohren Ihres Pferdes verbunden. Fällt Ihr Oberkörper nach vorn, knickt Ihr Bauchnabel nach hinten und das Drahtseil reißt an Ihrem Piercing: Autsch. Fällt Ihr Oberkörper nach hinten, sticht Ihnen das Drahtseil in den Bauchnabel. Ich gebe zu, das Bild ist ein wenig drastisch. Aber es ist hilfreich.

 

Der rote Kreis

 

Wie reite ich einen wirklich korrekten runden Zirkel – die Grundvoraussetzung für das Geradeausreiten, für Schwung und Takt? Ohne dass es ein Ei wird oder – noch schlimmer – eine Birne, bei der das Pferd aus dem Gleichgewicht kommt?

Sie stellen sich vor, Sie haben einen großen Eimer mit roter Farbe und einen überdimensional großen Pinsel. Mit diesem malen Sie die perfekte geometrische Form eines Zirkels in die Reitbahn. In Ihrer Vorstellung steht jemand mit einer Longe in der Mitte des Zirkels, während Sie mit dem Pinsel am anderen Ende der Longe einen großen roten, runden Kreis auf den Boden malen. Sie steigen auf und folgen mit Ihrem Pferd der roten Linie. Haben Sie den roten Kreis immer vor Ihrem inneren Auge – reiten Sie den perfekten Zirkel. Falls Sie Rot nicht mögen, nehmen Sie Blau, Grün oder Gelb – egal: Folgen Sie der Farbe.

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„Viele Menschen besuchen eine Kirche, wenn sie Probleme haben. Meine Kirche ist Nuno Oliveiras Reithalle“, sagt Luis Valença. (Foto: Christiane Slawik)

 

 

Gefühle verändern (Reiter-)Welten

 

Natürlich stehen die hier geschilderten inneren Bilder in engem Zusammenhang mit Gefühlen: das heiße Wachs der Kerzen, das bei unruhigen Händen hinuntertropft. Das Drahtseil, das am Bauchnabel zieht. Luis Valença, Portugals großer Reitmeister, Großneffe und Schüler von Nuno Oliveira, lässt bei diesem Thema seiner portugiesischen Seele freien Lauf: „Diese Bilder sind extrem nützlich. Trotzdem arbeite ich selbst lieber mit positiven Emotionen“, sagt der 70-Jährige. Verkrampften Reitschüler zum Beispiel rät er, sie sollen sich vorstellen, an einem wunderschönen Strand zu liegen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und das Meer rauscht sanft. „Kannst du die Wellen hören? Entspanne dich!“

Reiten ist für Valença pure Leidenschaft. „Als was könnte man das Reiten sonst bezeichnen? Ihr Deutschen“, sagt er lachend, „seid oft viel zu technisch.“ Sein Plädoyer: „Reiten Sie mit mehr Kino im Kopf!“ Wenn es bei ihm selbst mal „klemmt“ („Oh ja, auch bei mir und nach all den Jahrzehnten gibt es immer mal wieder ein Problem auf dem Pferd“), dann versetzt er sich im Geiste zurück in die legendäre Reithalle von Nuno Oliveira auf der Quinta do Brejo in Avessada. Eine Komposition von Giuseppe Verdi tönt aus den Lautsprechern und sein Großonkel Nuno reitet. Es ist Nachmittag und das sanfte Licht fällt goldschimmernd durch die hoch angesetzten Fenster schräg auf den dunkelbraunen Reitboden. Er selbst, sagt Luis, sitzt in seiner Vorstellung wieder einmal auf der winzigen Tribüne und schaut zu. „Viele Menschen besuchen eine Kirche, wenn sie Probleme haben. Meine Kirche ist Nuno Oliveiras Reithalle. Wo es so viele magische Momente gab, die sich so fest in mein Gedächtnis eingegraben haben. Ich lasse diese Momente wie ein Film in einem Kino vor meinem inneren Auge ablaufen, ich lasse die Magie Revue passieren … und finde die Lösung für mein aktuelles Problem mit dem Pferd.“

 

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, lautet ein berühmtes Zitat von Altbundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015). Er sagte das im „Spiegel“ über Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf 1980. Aber das war im letzten Jahrhundert. Gehen Sie heute nicht zum Arzt. Setzen Sie sich auf Ihr Pferd … und haben Sie Visionen!

 

 

 

 

 

Kathrin Brunner-Schwer lebt mit drei Pferden und einem kleinen Esel in der Nähe von Karlsruhe. Sie arbeitet als freie Journalistin fürs Fernsehen und für einige Printmedien. 2015 startete sie ein ganz persönliches Pferdeprojekt: das Einreiten ihrer selbst gezogenen Luso-Arab-Stute rein nach Oliveira und absichtlich ohne Hilfestellung von außen.

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Category: Aktuelle Themen

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